Ein Lehrstück in Demagogie und Populismus

Bei Max Ottes rechtem Pfingsttreffen in Neustadt an der Weinstraße rief Markus Krall zum Widerstand auf und Daniele Ganser war der smarte Starredner. Kann man etwas von ihnen lernen?

Es war keine ganz leichte Entscheidung, das 34 Euro teure Ticket (Frühbucherpreis) für Max Ottes großspurig angekündigten „Kongress für Frieden und Sicherheit in Europa“, das mir wenige Tage vor dem 8.6. angeboten wurde, anzunehmen, und die Veranstaltung dann auch zu besuchen. Die Käuferin der Eintrittskarte konnte wegen eines Unfalls diesen Teil des sogenannten neuen Hambacher Festes 2019 nicht selbst wahrnehmen.

Doch als älterer Herr in legerer Kleidung und mit nur noch wenigen Haaren auf dem Kopf war ich unter den rund 1.000 Besuchern zunächst keiner, der aufgefallen wäre. Die mittelstandsgeprägte Zusammensetzung von Max Ottes Pfingsttreffen war divers – mindestens in Bezug auf das Alter, das Outfit und den Haarschnitt. Von jung bis alt, von Wanderkluft oder Jeans-Look bis zum Anzug mit Krawatte, von Langhaarigen bis zu Kurzgeschorenen war alles vertreten. Springerstiefel und schwarzer Nazi-Look, was manche „Antifaschisten“ bei Ottes Treffen vielleicht ebenfalls erwartet hätten: Fehlanzeige.

Ungemütlich und unangenehm war etwas anderes. Statt sachlich-diskursiver Kongressatmosphäre herrschte in der etwas stickigen Luft des Saalbaus, der praktisch ausgebucht war, eine euphorisch, aufgeheizte Stimmung. Es wurde geklatscht, gejohlt und begeistert aufgesprungen. Dabei konnte ich natürlich nicht mitmachen und blieb vier Stunden brav sitzen und rührte meine Hände nicht. Das verlangte ein gewisses Rückgrat, was einer der Redner, Daniele Ganser, des Öfteren gefordert hatte, wenn er damit auch nicht unbedingt mein klatschabstinentes Verhalten gemeint haben wird. Meine nächste Umgebung, ich hatte wahrscheinlich Glück, hat meine Distanz zu dieser Veranstaltung toleriert und mich nicht schief oder gar aggressiv angemacht.

Die Bühne war links mit einer großflächigen Fahne dekoriert, schwarz-rot-gold, mit der Inschrift „Deutschlands Wiedergeburt“. Das stand auch auf den Fahnen des Hambacher Festes von 1832, auf das sich Max Otte mit nicht ganz lauteren Absichten beruft. War es eine nachlässige, nicht fachmännische Befestigung oder gar Sabotage? Jedenfalls hing die riesige Fahne nach der Pause nur noch schlaff an einem Zipfel auf die Bühne herab. Ein erstes Menetekel?

Max Otte und sein Publikum

Die sonst bei Max Otte beliebte Wanderkluft mit Klampfe hatte er am Samstag durch einen dunklen Anzug mit Krawatte ausgetauscht. Otte begann die Veranstaltung mit dem gemeinsamen Absingen der Nationalhymne (3. Strophe!) gefolgt von der Europa-Hymne, deren Vorlage ja von Schiller und Beethoven gut deutsch ist, wenn auch die musikalische Begleitung dieser Hymne arg militaristisch daher kam. Ich gestehe, ich habe mitgesungen und bin dazu aufgestanden, wie, soweit ich sehen konnte, alle anderen auch.

Max Otte vor dem Saalbau in Neustadt an der Weinstraße

Mit der deutschen Nationalhymne, der 3. Strophe, habe ich keine prinzipiellen Probleme, wenn ich mir dazu auch Alternativen vorstellen könnte. Probleme habe ich mit der emotionalisierten Stimmung, die leicht entsteht, wenn Massen zum Singen animiert werden. Und ziemlich ungut habe ich mich gefühlt, gemeinsam mit Leuten zu singen, wie etwa dem Fraktionsvorsitzenden der AfD im Rheinland-Pfälzischen Landtag, Uwe Junge, sowie anderen AfD-Mitgliedern. Junge, der Mann mit dem eindrucksvollen Schnauzer, wurde im Übrigen von CDU-Mitglied Otte freundlich begrüßt.

Demokratiefest Hetzelplatz

Was treibt die Menschen auf diese Veranstaltung? Diese Frage ist natürlich nur „anekdotisch“ zu beantworten. Am Vormittag, beim Demokratiefest des Regionalen Bündnisses gegen Rechts auf dem Hetzelplatz, dem Saalbau in Neustadt gegenüber gelegen, kam es zu einigen Diskussionen zwischen Teilnehmern des Demokratiefestes und Besuchern von Ottes Veranstaltung.

Da äußerte etwa ein sportlicher, mittelalter, kurzgeschorener Herr mit Zöpfchen, dass er mit dem Patriotengetue von Otte nichts am Hut habe, aber Daniele Ganser interessiere ihn. Auch sei ihm reichlich egal, welches politische Etikett, rechts oder links, ihm oder anderen angeheftet werde. In der AfD sei er nicht Mitglied. Was diesen Herrn aber umtrieb, war z.B. das Thema Klima, bzw. die sogenannte Klimalüge und dass Wind- und Solarenergie keine sichere Stromversorgung gewährleisten könnten. Hier wurde eine Position in der Energiedebatte „bekämpft“, die keiner, der sich ernsthaft mit der „Energiewende“ beschäftigt, so vertritt (Stromverbrauch zu 100% aus Wind- und Solarenergie). Außerdem warnte er vor dem großen ökonomischen Crash, der in zwei Jahren anstehe. Die Quelle für diese Prognose ist einer von Ottes Rednern, Markus Krall: „In zwei Jahren fliegt uns das Bankensystem um die Ohren“ (am 7.3.2018 in Focus online). Als wichtige Informationsquelle wurde z.B. der YouTube-Kanal nuoviso („Was tun bei einem UFO-Angriff?“) empfohlen, wo sich Esoteriker mit politischen Apokalyptikern ein Stelldichein geben.

Eine ehemalige Wählerin der SPD, die Daniele Gansers Bücher gelesen hatte, wollte ihn nun einmal leibhaftig erleben. Sie war empört über angebliche ständige Steuererhöhungen – wusste aber nicht, dass sich Max Otte vor Jahren für radikale Steuererhöhungen ausgesprochen hatte: Einkommensteuer bis zu 60 %, Erbschaftssteuer bis zu 90 %. Und neben den schrecklichen Windrädern, die die Natur verschandeln, wurden dann noch die Strahlungsgefahren durch den neuen Mobilfunkstandard G5 angeführt. Für diese Übel und noch viele andere sei Merkel verantwortlich.

Das Feindbild „Merkel“ ist der gemeinsame Nenner, der die 1.000 im Saalbau vereint. Kritisierte einer der Redner die Bundeskanzlerin, dann ging der Klatschpegel bis zum Anschlag. Nur wenn der Grüne Robert Habeck von Otte und seinen Rednern aufgespießt wurde, steigerte sich die beklatschte und bejohlte Empörung bis in ähnliche Dimensionen.

Markus Krall – ein reaktionärer Pseudo-Revolutionär

In Ottes Eröffnungsansprache diagnostizierte er die „große Krise“, in der Deutschland stecke. Daran konnte Markus Krall, Ökonom wie Otte, nahtlos anknüpfen. Krall war auch schon 2018 beim ersten Otte-Fest auf dem Hambacher Schloss mit einer Rede vertreten. Krall gibt den Apokalyptiker und reaktionären Scharfmacher. Die Rollen zwischen Otte und Krall sind gut verteilt. Otte der Biedermann, Krall der Brandstifter. Diesmal rief Krall nicht explizit, wie 2018, das „deutsche Bürgertum“ auf, die Revolution zu lernen und sich an ein Zitat des amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson aus dem Jahr 1787 zu halten, dass die Demokratie immer wieder mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen getränkt werden müsse. Aber seine Botschaft war die gleiche, nur der Ton war in diesem Jahr etwas moderater.

Zitat aus Kralls Rede auf dem Hambacher Schloss im Mai 2018
(c) Christian Ratz für Kommunalinfo Mannheim

Krall, ein bekennender (neo)liberaler Hayek-Anhänger, hämmerte den ZuhörerInnen ein, wie unsere Freiheiten durch eine „sozialistische Republik“, Gender-Wahnsinn, Überregulierung, Zensur und Überwachung bedroht seien. Man fragt sich wirklich, in welcher Welt dieser Markus Krall lebt. Ist diese von der eigenen durch eine hohe Mauer getrennt?

Was Krall zu einem wirklich gefährlichen Rechtsextremisten macht, ist sein Spiel mit dem revolutionären Aufstand, zu dem zur Rettung von Vaterland und guten Sitten das Bürgertum aufgerufen sei. In diesem Jahr verpackte er es, ich hatte fast darauf gewartet, in den Verweis auf das Widerstandsrecht in Artikel 20 (4) des Grundgesetzes:

„Gegen jeden, der es unternimmt, diese [grundgesetzliche] Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Wer selbst einmal in frühen Jahren einer politischen Organisation nahe stand, die sich wenige Jahre vor ihrer Auflösung nicht entblödete, pseudomilitärische (unbewaffnete) Übungen zu veranstalten, weiß, wie der Dreischritt aus verblendetem Krisengerede und Endzeitprophezeiung, revolutionärer Widerstandspropaganda und dem Aufruf zur Gewalt funktionieren kann. Ich will den Staatsschutz nicht auffordern, bei Markus Krall im Garten nach Waffendepots zu suchen. Das traue ich ihm wirklich nicht zu. Ich will aber nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass in Neustadt am 8.6.2019 und auf dem Hambacher Schloss am 5.5.2018 und bei Kralls sonstigen LeserInnen und ZuhörerInnen nicht einige dabei waren und sind, die aus seiner Revolutionsrhetorik genau diesen Schluss ziehen. Der mordende NSU und andere haben es vorgemacht.

Otte hat in Neustadt die politische Gewalt gegen AfD-Politiker beklagt. Keine Frage, wo solche wirklich vorgekommen ist, ist das nicht zu entschuldigen. Aber Ottes Tunnelblick lässt natürlich nicht die Tatsache gelten, dass die überwiegende Zahl politisch motivierter, gewalttätiger Angriffe auf AusländerInnen, Flüchtlinge, MigrantInnen und linke PolitikerInnen von Rechten ausgeht. Oder weiß er es und sagt es nicht?

Statistisch erfasst wurden im Jahr 2018 20.400 politisch motivierte Straftaten mit rechter Motivation und 8.000 mit linker Motivationen. 2018 gab es 1.000 Körperverletzungsdelikte mit rechter Motivation und 507 mit linker Motivation. (Quelle: Statistik über politisch motivierte Gewalt im Jahr 2018 https://www.bmi.bund.de/).

Friedensapostel und Menschenfreund Daniele Ganser

Ganz friedlich ging es dagegen bei Daniele Ganser zu. Er gibt den Versöhner, den Prediger der Achtsamkeit, den mutigen Kritiker aller Kriegsverbrecher, egal ob Ost oder West, ob Nord oder Süd. Daniele Ganser, der Schweizer Historiker und Friedensforscher, wie er sich gerne selbst vorstellt, war eindeutig der Star des Nachmittags im Neustädter Saalbau. Er ist Pop. Das Auditorium jubelte ihm zu, und er war ohne Frage der beste Redner der Veranstaltung, der problemlos fast eineinhalb Stunden sein Publikum unterhielt.

Für mich war Gansers Rede eine Lehrstunde in Demagogie und Populismus. Noch nie ist mir so anschaulich klar geworden, was Populismus heißt. Doch um was ging es in seiner perfekten Bühnen-Performance?

Ganser behandelte das UN-Gewaltverbot und die Verstöße gegen dieses Gewaltverbot beginnend mit dem Putsch gegen den gewählten Präsidenten des Iran, Mossadegh, 1953 durch den britischen Geheimdienst MI5 in Zusammenarbeit mit dem CIA bis zu den jüngsten militärischen Angriffen der USA gegen Syrien durch Trump. Auch Breschnew, langjähriger Parteichef der KPdSU und Staatsoberhaupt der verblichenen Sowjetunion, bekam als Kriegsverbrecher von Herrn Ganser eine „Rote Karte“ für seinen Krieg  gegen Afghanistan ab 1979. Weitere Beispiele waren Kuba, Vietnam, Chile, Kuwait, Serbien, Kosovo und Syrien. Es ist durchaus ehrenvoll und unterstützenswert, was Ganser zu diesen in der Regel imperialen Übergriffen auf kleinere Länder, die ihre Unabhängigkeit verteidigen, zu sagen hatte. Neu ist es allerdings nicht, wenn man einigermaßen als politisch interessierter Mensch die Medien verfolgt. Unerträglich und demagogisch ist die Gansersche stupide, gebetsmühlenartige Trivialisierung der Geschichte.

Ganser als Weltenrichter – Probleme internationaler Gerichtsbarkeit

Wenn jemand eine Person für einen Verbrecher hält, hat er in einem Rechtsstaat die Möglichkeit, dies von einem Gericht prüfen zu lassen. Das Problem ist: Für die internationale Politik gibt es dieses allseits anerkannte und zuständige Gericht nicht. Klar, Ganser hat alle Plausibilität und Moral auf seiner Seite, wenn er von Eisenhower bis Trump und Staatschefs anderer Länder Verstöße gegen das Gewaltverbot der UN vorwirft. Er benennt auch, dass eine Verurteilung von China, Frankreich, Großbritannien, Russland (ehemals Sowjetunion) und USA deshalb nicht zustande kommt, weil jedes dieser Länder im Sicherheitsrat der UN mit einem Veto ein solches Urteil verhindern kann und bisher auch immer verhindert hat. Ganser beschreibt zwar das Dilemma der Konstruktion des Sicherheitsrates, verwendet aber auch nicht den kleinsten Gedanken darauf, ob und wie diese Konstruktion zu ändern wäre.

Immerhin gibt es seit 2002 den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag, der seit Juli 2018 auch die Zuständigkeit für Verbrechen der Aggression gegen andere Länder besitzt. Es zeigt sich am Beispiel des IStGH, wie schwierig und langwierig es ist, solche internationalen Rechtsinstanzen zu etablieren. Ein weiteres Problem des IStGH ist, dass er u.a. von China, Israel, Russland, Syrien und den USA nicht anerkannt wird. Die EU-Länder, auch die Vetostaaten Frankreich und Großbritannien, haben ihn allerdings anerkannt. Die Etablierung des IStGH zeigt aber auch, dass Fortschritte im Völkerrecht durchaus erreichbar sind, wenn auch mühsam. Ganser hat dazu keine Ideen, äußert sie nicht oder interessiert sich nicht für diese „Mühen der Ebenen“.

Eindimensionale, unterkomplexe Behandlung internationaler Konflikte

Eindimensional ist auch seine Darstellung der von ihm behandelten kriegerischen Aggressionen. Nehmen wir die Bombardements von IS-Gebieten in Syrien im Jahr 2014 durch die USA unter Obama. Ganser „verurteilt“ Obama deswegen als Kriegsverbrecher. Er erwähnt nicht, dass sich die Bombardierung gegen den IS gerichtet hat. Er erwähnt auch nicht, dass der IS schwerste Verbrechen, u.a. an den Jesiden, begangen hat. Er erwähnt ebenfalls nicht die damals äußerst kontroverse Diskussion, auch in den „Mainstream-Medien“, über die Legitimität des von Obama verantworteten Militäreinsatzes und dessen Erfolgsaussichten (im Sinne der Zurückdrängung des IS und des Schutzes der syrischen Bevölkerung). Er erwähnt auch nicht die komplizierte Frage, die zu diesem Zeitpunkt nicht zum ersten Mal, aber erneut kontrovers aufgeflammt ist, einer „humanitären Intervention“. Er verteidigt dagegen die militärische Unterstützung des syrischen Präsidenten Assad durch Russland als legitim, da Russland ja von Assad „eingeladen“ wurde. Kein Wort über Assads langjährige Diktatur mit schwersten Menschenrechtsverletzungen, die durch Russlands militärische Intervention gedeckt und stabilisiert wurde.

Der anerkannte, langjährige Friedensaktivist und mit den Verfahren der UN vertraute Journalist Andreas Zumach schrieb zur Entwicklung des Syrien-Konflikts bereits 2012:

„In Syrien wurden in den letzten Monaten über 8.000 Menschen getötet – überwiegend durch Soldaten oder andere Sicherheitskräfte des Regimes von Präsident Baschar al-Assad. Nach Einschätzung der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay sowie einer Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtsrates erfüllt das brutale Vorgehen des Assad-Regimes gegen Teile der syrischen Bevölkerung inzwischen den Straftatbestand von ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘. Damit hätte die internationale Gemeinschaft die ‚Verantwortung zum Schutz‘ der syrischen Bürgerinnen und Bürger vor ihrer eigenen Obrigkeit. … Aufgrund der ‚unbeschreiblichen Gewalt‘ müsse sich der Internationale Strafgerichtshof mit der Lage in Syrien befassen.“

Ganser ist diese Situation keine Silbe wert. Es zeigt beispielhaft das Dilemma internationaler Politik in solchen und ähnlichen Situationen: Einerseits Berücksichtigung des Gewaltverbots gegen souveräne Staaten, andererseits die Notwendigkeit des Eingreifens wegen drohender oder in Gang befindlicher massiver Menschenrechtsverletzungen. Ganser interessiert sich nicht dafür, greift es jedenfalls in seinem Vortrag nicht auf, obwohl die Medien diese Diskussion (kontrovers) führen.

Ganser arbeitet mit Verdächtigungen und unbewiesenen Behauptungen

Gerne arbeitet Ganser mit Verdächtigungen, Gerüchten oder unbewiesenen Behauptungen. So hat er etwa wortwörtlich behauptet: „Sie können 50 oder 60 Jahre alt werden, ohne etwas vom UN-Gewaltverbot gehört zu haben.“ Klar, man kann sich besser als Aufklärer stilisieren, wenn man etwas kund tut, was die Zuhörer (angeblich) nicht wissen bzw. was ihnen von den „Mainstream-Medien“ angeblich bewusst und gezielt verheimlicht wird.

Aber für den „Faktencheck“ braucht man keine Minute, um mit einer einfachen Internetrecherche festzustellen, dass z.B. in den baden-württembergischen Bildungsplänen des Jahres 2016 für die Sekundarstufe I im Fach Gemeinschaftskunde das Thema UN-Gewaltverbot prominent zu finden ist. Die Schülerinnen und Schüler sollen danach die Hauptziele der UNO, nämlich Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sowie die Durchsetzung der Menschenrechte, und die Grundsätze Staatliche Souveränität, Allgemeines Gewaltverbot, verbindliche Beschlüsse des Sicherheitsrats und das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung beschreiben können.

Ebenfalls braucht es für den Faktencheck im Online-Archiv der FAZ, eine nach Ganser ja wichtige Zeitung der kritisierten „Mainstream-Medien“, keine Minute, um festzustellen, dass es dort seit 1993 mehr als 230 Artikel gibt, in denen der Begriff „Gewaltverbot“ vorkommt.

Und schließlich zeigt ein drittes Beispiel, dass es Ganser weit mehr auf das Säen von Misstrauen und das Verbreiten von Verdächtigungen ankommt als auf eine seriöse, um nicht zu sagen wissenschaftliche Recherche. Jeffrey Sachs, ein bekannter US-amerikanischer Ökonom, ist einer von Gansers Gewährsleuten für die Illegalität der Intervention der USA in Syrien. Sachs hatte dies in einer Sendung des amerikanischen TV-Kanals MSNBC gesagt. Dieses Sachs-Zitat vom April 2018 erwähnte Ganser in seinem Vortrag und ergänzte: „aber vermutlich wird er [Sachs] nicht mehr eingeladen werden.“

Die unausgesprochene Botschaft lautet: Der kluge, mutige und USA-kritische Sachs, sagt Dinge, die man in den USA eigentlich nicht sagen darf. Er wird deshalb in den „Mainstream-Medien“ nicht mehr zu Wort kommen. Dem ist wiederum nicht so, wie der Faktencheck zeigt. Jeffrey Sachs war seit April 2018 mindestens dreimal in diesem einen Fernsehsender präsent. Und man wird schnell herausfinden können, dass er auch in anderen Medien der USA weiterhin seine Meinung sagen darf.

Voll besetzt: Saalbau in Neustadt

Rhetorisch nahe an der Indoktrination

Ganser ist rhetorisch äußerst geschickt und wirkungsvoll – wenn man diesen Stil mag. Wer dem Wander- und Volkslied zugetan ist, der ist bei Max Otte gut aufgehoben („Böse Menschen haben keine Lieder“). Wer über die Abgründe internationaler Politik „aufgeklärt“ werden will, garniert mit witzig-unterhaltsamen Geschichten aus der Welt des Fußballs und über James Bond, kommt bei Ganser auf seine Kosten. Nein, Ganser ist ganz und gar nicht verbissen, er ist locker und smart. Und er kennt sich aus in der Kommunikationspsychologie.

Konditionierung, vulgär „Einbläuen“, wirft Ganser immer wieder den Medien vor und erzählt dazu seine lustigen James Bond Geschichten, so auch in Neustadt. Ganser legte nahe, dass die Medien von den illegalen Aktivitäten des britischen MI5 beim Putsch im Iran 1953 ablenken, indem sie den britischen Geheimdienst mit dem tollen James Bond verknüpfen. Das mag vielleicht bei schlichten Gemütern verfangen, aber ein mittelmäßig intelligenter Mensch wird durchaus in der Lage sein, einen Unterschied zwischen der Welt der Agentenfilme und der realen Welt der Geheimdienste zu machen.

Gerne vergleicht Ganser die internationale Politik mit dem Fußball. Dass Kriegsverbrecher von ihm immer eine „Rote Karte“ bekommen, wurde ja schon erwähnt. Sein beliebtestes Beispiel aus dem Fußball ist Zidanes Kopfstoß bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Ganser lobte den Fußball für seine klaren Regeln. Wenn ein Spieler einen anderen mit einem Kopfstoß attackiere, dann gibt es eine rote Karte. Warum gibt es das in der Politik nicht, fragt Ganser leicht naiv. Er will dieses „klare Prinzip“ – Regelverstoß –> Rote Karte – auf die Politik übertragen. „Und immer wenn ein Politiker ein anderes Land überfällt, bekommt er eine Rote Karte.“ Oder an anderer Stelle: „Das ist, was mich ärgert: Im Fußball haben wir klare Regeln, in der internationalen Politik sind wir im Blindflug“. Was der Unterschied zwischen Fußball und internationaler Politik ist, wird nicht thematisiert. Das ist Klippschulniveau, da hat jede „Sendung mit der Maus“ ein anspruchsvolleres Curriculum.

Fußball ist ein Spiel. Nach dem Spiel gibt man sich die Hand, egal wie es gelaufen ist. Vor allem aber gibt es Schiedsrichter mit einer legitimen und von allen Beteiligten anerkannten Sanktionsgewalt. In den internationalen Beziehungen gibt es zwar Regeln, das Völkerrecht und internationale Vereinbarungen, aber keine legitime und allseits, anerkannte Macht, diese auch effektiv durchzusetzen und zu sanktionieren. Das ist der Unterschied, den Ganser nicht sehen will. Das macht internationale Politik zu einem etwas schwierigeren Geschäft als die Leitung eines Fußballspiels.

Das gebetsmühlenartige Einhämmern seiner „Beweisführung“, die er bei jedem seiner Fälle wiederholt, geht bei Ganser so:

Frage: Ist Iran/Kuba/Vietnam/Chile/Afghanistan etc. [Bitte jeweils das Passende einsetzen] ein anderes Land als Großbritannien/USA/Sowjetunion etc. [Bitte jeweils das Passende einsetzen]?

Antwort: Ja.

Frage: Durfte Eisenhower/Kennedy/Breschnew etc. dieses Land überfallen?

Antwort: Nein, nein er durfte es nicht, er durfte es wirklich nicht!

Frage: War das also ein Verstoß gegen das Gewaltverbot der UN?

Antwort: Ja, das war ein Verstoß gegen die UN-Charta.

Frage: War Eisenhower etc. also ein Kriegsverbrecher?

Antwort: Ja, natürlich, er war ein Kriegsverbrecher, auch wenn Sie es so nicht in den Medien lesen.

Schlussfolgerung: Ich gebe ihm die Rote Karte!

Das ist rhetorisch nahe an einer Büttenrede oder an Comedy.

Etiketten

Daniele Ganser ist eine komplexe, nicht leicht zu fassende Person. Ihm wurde schon manches Etikett angeheftet, das notwendigerweise dieser Komplexität nicht gerecht wird.

Seine Eigenetikettierung ist „Historiker und Friedensforscher“. Dieses Etikett spreche ich ihm ab. Wissenschaft, auch die historische Wissenschaft, ist dafür da, die Realität in ihrer Komplexität besser zu verstehen. Ganser dagegen vereinfacht die Wirklichkeit gnadenlos. Und sein Beitrag als Friedensforscher besteht in der Anklage und dem „Urteil“ über „illegale Kriege“. Kein Wort dazu, wie man zu einer friedlicheren Welt kommen könnte.

Ist Ganser eigentlich Pazifist? Eine interessante Frage. Ich kenne keine Äußerung von ihm dazu. Das UN-Gewaltverbot sieht ja zwei Ausnahmen vor: Selbstverteidigung und militärische Intervention auf Basis eines Sicherheitsratsbeschluss.

Ganser wird teilweise in die Ecke der Verschwörungstheoretiker gestellt. Da ist durchaus etwas dran, z.B. in seiner Kritik an den „Mainstream-Medien“. Es müsste ja eine geheime Zensurbehörde geben, die die Vielfalt der Medien auf eine z.B. NATO-hörige Linie bringt. Das sagt er natürlich nicht so, wie er auch nicht sagt, dass die US-amerikanische Regierung den Einsturz der Twin Towers 2001 selbst initiiert habe. Er legt es aber nahe.

Ganser ist ein Demagoge, der nicht davor zurückschreckt, mit Unterstellungen und falschen Behauptungen zu arbeiten und ich würde ihm auch das Etikett des Populisten anheften, insbesondere durch seine Trivialisierung und Vereinfachung komplexer, gesellschaftspolitischer Zusammenhänge. Ich unterstelle einmal, er ist ja nicht dumm, er macht dies wider besseres Wissen. Ganser beschreibt Missstände, vermeidet es aber, nach den Ursachen zu forschen und nach Lösungen zu suchen. Populistisch ist auch, wie Ganser mit Unterstellungen Argwohn hegt gegenüber dem Mediensystem und der herrschenden politischen Elite. Jenseits aller berechtigten Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen ist eine Demokratie auf ein grundlegendes Vertrauen in die Funktionsfähigkeit ihrer Institutionen und der sie tragenden Organisationen und Personen angewiesen.

Seine Verdienste um die Popularisierung des Wissens über Kriegstreiber und „illegale Kriege“ sind unbenommen. Ob er ein rechter oder linker Populist ist, spielt vielleicht gar keine Rolle. Ganser ist wendig genug, sich den jeweiligen Stimmungen bei seinen Auditorien – ob rechts, mittig oder links – anzupassen. Und Ganser schreckt auch davor nicht zurück, bei Veranstaltern aufzutreten, die Holocaustleugner als Redner einladen oder, wie am Pfingstsamstag bei Max Ottes Stelldichein rechstpopulistischer bis rechtsextremistischer Redner, wo ein verblendetes Mittelstandspublikum zur Revolution angestachelt wird. Ich finde das verwerflich.

Ulrich Riehm

Dank an Freundinnen und Freunde für kritische Rückmeldungen zu ersten Entwürfen dieses Textes.

Bilder, soweit nicht anders angegeben, privat.