Interview mit Michael Sturm, Historiker und pädagogisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter in Münster
Auf Einladung der Friedensakademie Rheinland-Pfalz in Landau hielt am 24.2.2021 Michael Sturm die Landau Peace Lecture zum Thema „Geschichtspolitik als Kulturkampf – Extrem rechte Aneignung von Geschichte“. Im Nachgang zu diesem Vortrag führten wir dieses Interview, das zwei Themen umkreist: Erstens Sturms Kritik an „historischen Meistererzählungen“ und sein Plädoyer für eine historische Vielstimmigkeit und zweitens die Frage nach der sozialen, insbes. bürgerlichen Basis heutiger rechter und rechtsextremer Strömungen.
Michael Sturm ist Historiker und pädagogisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter im Geschichtsort Villa ten Hompel der Stadt Münster und bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Münster. Er veröffentlicht zur Polizei- und Protestgeschichte, aktuellem und historischem Rechtsextremismus, Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen. Er hat 2019 u.a. den Beitrag „Geschichtspolitik als Kulturkampf – der Gebrauch von ‚Geschichte‘ im aktuellen Rechtspopulismus“ in dem von Michael Parak und Ruth Wunnicke herausgegebenen Sammelband „Vereinnahmung von Demokratiegeschichte durch Rechtspopulismus“ veröffentlicht. In seinem Vortrag für die Peace Lecture Landau greift er auf Thesen dieses Beitrags zurück. Der Vortrag ist auch im Youtube-Kanal der Friedensakademie nachhörbar.

Freundeskreis Hambacher Fest von 1832: Eine der Kernthesen Ihres Vortrags bei der Landau Peace Lecture am 24.2.2021 war, dass man mit „historischen Meistererzählungen“ den rechten geschichtspolitischen Aneignungsstrategien, etwa durch Max Ottes sog. neues Hambacher Fest, nicht sinnvoll begegnen könnte. Den „Meistererzählungen“ setzen Sie ein Konzept der Vielstimmigkeit entgegen. Was macht eigentlich eine „historische Meistererzählung“ aus und warum ist dieser Ansatz fragwürdig?
Michael Sturm: „Historische Meistererzählungen“ werden „gemacht“, von Akteur*innen, die sie mit gegenwartsorientierten Ansprüchen und Zielen befrachten. „Historische Meistererzählungen“ sind dadurch gekennzeichnet, dass sie historische Prozesse, Ereignisse und Erfahrungen gleichsam teleologisch, also auf einen zentralen Referenzpunkt oder eine übergreifende Interpretation hin, deuten. Unterschiedliche Erfahrungen, Widersprüche, gegenläufige oder bei genauerer Betrachtung uneindeutige historische Entwicklungen werden zugunsten einer großen, übergreifenden Erzählung eingeebnet und unsichtbar gemacht. „Historische Meistererzählungen“ können nationalistisch, rassistisch und völkisch-exkludierend aufgeladen sein. „Geschichte“, zumal die deutsche, wird in dieser Sichtweise als ständiger Kampf eines homogen und exklusiv gedachten Volkes, gegen äußere und innere Bedrohungen, gegen vermeintlichen Werteverfall und angebliche „Überfremdung“ konstruiert.
Vielschichtige historische Ereignisse, wie etwa das „Hambacher Fest“, werden umstandslos in dieses Kernnarrativ eingefügt. Die „Erzähler*innen“ dieser Geschichtsdeutungen weisen sich darin nicht selten selbst einen prominenten Platz zu. Im Falle der extrem rechten Aneignung des „Hambacher Festes“ inszenieren sich die Initiator*innen und Teilnehmer*innen des „Neuen Hambacher Festes“ als Wiedergänger*innen der damaligen Protagonist*innen, die gestern wie heute, bedroht von Repression, um den Erhalt der „Nation“ ringen würden.
Beim Freundeskreis Hambacher Fest von 1832 argumentieren wir gerne gegen Max Otte und seine rechten Freunde, dass das Hambacher Fest eine wichtige Etappe im Kampf um Demokratie in Deutschland war, der u.a. 1848/49, 1918/19, 1945ff. und 1989ff. fortgesetzt wurde, viele Umwege, Irrungen und Opfer gekostet und auch keinen Endpunkt erreicht hat. Wir sind einerseits „stolz“ auf diese Geschichte, andererseits ist uns klar, dass die Demokratie immer verteidigt und weiterentwickelt werden muss. Würden Sie das auch für eine „verwerfliche“ Meistererzählung halten? Und sind solche natürlich von der Gegenwart und bestimmten Standpunkten und Interessen beeinflussten Geschichtsinterpretationen nicht einfach auch hilfreich und notwendig, um nicht in einer unübersichtlichen „Vielstimmigkeit“ verloren zu gehen?
Mir geht es gar nicht darum, die Kämpfe um demokratische Rechte, Anerkennung und Gleichheit, die zu unterschiedlichen Zeiten von unterschiedlichen Akteur*innen geführt worden sind, nicht wertzuschätzen. Ganz im Gegenteil! Ob ich oder „wir“ darauf „stolz“ sein können oder wollen, würde ich jedoch mit einem Fragezeichen versehen. Zum einen müsste genauer definiert werden, wer mit „wir“ eigentlich gemeint ist. Zum anderen haben die damaligen Akteur*innen, ihre Kämpfe zwar mit Blick auf eine bessere Zukunft, aber eben nicht für „uns“ geführt, sondern in erster Linie, aus ihrer eigenen Situation heraus. Die Beschäftigung mit diesen Kämpfen rückt aber einen Aspekt in den Fokus, der für ein emanzipatorisches Geschichtsverständnis von zentraler Bedeutung ist: Nämlich, dass „Geschichte“ keineswegs „schicksalshaft“, sondern veränderbar ist, und ganz wesentlich geprägt ist durch das Ringen um Anerkennung sowie um politische und soziale Rechte. Diese Akteur*innen, ihr Handeln, ihre Ideen und Motive gilt es sichtbar zu machen. Insofern stelle ich zwar den Ansatz der „Meistererzählung“ in Frage, gehe aber sehr wohl von einem grundlegenden Referenzrahmen aus: Die historische wie aktuell keineswegs eingelöste fundamentale und universelle Gleichheit des Menschen. Die Betrachtung der Kämpfe um Anerkennung sollten jedoch nicht in Ikonisierungen oder Held*innenerzählungen münden, sondern auch ihre Widersprüche und Vielschichtigkeiten abbilden. Insofern finde ich es wichtig, einen genaueren Blick auch auf die von Ihnen genannten „Irrungen“ und „Umwege“ zu legen. Natürlich enthält, darauf hat besonders auch die Historikerin Cornelia Siebeck hingewiesen, auf deren Überlegungen ich mich hier beziehe, auch die Perspektive der „Vielstimmigkeit“ gegenwartsbezogene, sinn- und gemeinschaftsstiftende Deutungsansprüche. Aber genau darauf käme es meiner Meinung nach aus einer emanzipatorischen Perspektive an: Diese Konstruktionsprozesse immer wieder sichtbar zu machen und zu hinterfragen.
Zweifellos erscheint es reizvoll, Meistererzählungen zu schaffen, die ein demokratisches Narrativ in den Mittelpunkt rücken. Also etwa eine direkte Linie vom „Hambacher Fest“ 1832 zur „Berliner Republik“ und deren politischer Kultur zu ziehen, die es nun gegen extrem rechte Vorstöße zu verteidigen gelte. Dem ist allerdings entgegen zu halten, dass die sehr unterschiedlichen, lokalen, transnationalen, sozialen und demokratietheoretisch Implikationen, die das „Hambacher Fest“ hatte, zugunsten einer Geschichtsteleologie zugespitzt werden, die ihre scheinbare Vollendung in der Bundesrepublik der Gegenwart findet.
Außerdem ist das damit einhergehende Narrativ von der Bundesrepublik als demokratischer „Erfolgsstory“ kritisch zu hinterfragen. Nach wie vor ringen marginalisierte Gruppen und Akteur*innen um politische und soziale Rechte. Rassismus und andere Ungleichwertigkeitsvorstellungen sind strukturell und im Alltag breit verankert. Die Kämpfe um Partizipation und gleichberechtigte Anerkennung, die die Geschichte der Bundesrepublik von Beginn an kennzeichneten, die aber häufig kaum wahrgenommen wurden und werden, finden in einer historischen Meistererzählung, die um gleichsam kanonisierte Orte der „Demokratiegeschichte“ kreist – wie etwa das Hambacher Schloss oder die Frankfurter Paulskirche – keinen Niederschlag. Mehr noch: Eine historische Meistererzählung, die in dieser Weise „Demokratiegeschichte“ als Erfolgsgeschichte in den Mittelpunkt rückt, trägt absichtlich oder unabsichtlich dazu bei, die vielschichtigen Kämpfe um Anerkennung weiter zu marginalisieren. Darauf hat im Februar 2021 ein breites Bündnis aus (post)migrantischen, postkolonialen und rassismuskritischen Initiativen hingewiesen. In einem Offenen Brief an die von zahlreichen Museen und Erinnerungsorten getragene Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte“ mit ihrem Projekt „100 Köpfe der Demokratie“ kritisieren sie die darin eingenommenen, ganz überwiegend „weißen“ Perspektiven. Antikoloniale und antirassistische Kämpfe und deren Protagonist*innen seien hingegen nahezu vollständig ausgeblendet. Die Ambivalenz zahlreicher im Projekt gewürdigter „Köpfe der Demokratie“ werde ausgeblendet.
Wenn ich hier nochmals insistieren und nachfragen darf: Warum soll es ein Widerspruch sein, die Demokratiegeschichte Deutschlands und Europas ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken und gegen die hemmungslose Vereinnahmung von Rechts zu verteidigen und gleichzeitig ein Bewusstsein von den Mängeln der „Berliner Republik“ zu haben und für deren Beseitigung einzutreten? Warum trägt diese Position zur Marginalisierung der „vielschichtigen Kämpfe um Anerkennung“ bei?
Es spricht ja überhaupt nichts dagegen, die extrem rechten, völkischen, häufig verschwörungsideologisch aufgeladenen und mit autoritären Grundpositionen verknüpften Geschichtsbilder offen zu legen, sie zu kritisieren und herauszuarbeiten, worin die Unterschiede zu den Narrativen und Interpretationsmustern bestehen, die etwa die „Orte der Demokratiegeschichte“, der Bundespräsident oder andere „deutungsmächtige“ Akteur*innen anbieten. Aber der von Ihnen erwähnte zweite Aspekt, nämlich das „Bewusstsein für die Mängel der ‚Berliner Republik‘“ scheint mir dabei dann doch häufig verloren zu gehen – und zwar keineswegs zufällig, sondern schlechterdings aus genau diesem Grund: die hergestellte Unsichtbarkeit von und das gesellschaftlich weitverbreitete Desinteresse an beispielsweise den historischen und aktuellen (post)migrantischen Perspektiven und Erfahrungen. Emanzipatorische Erinnerungskulturen und Ansätze der (historisch-)politischen Bildung sollten sich aus meiner Sicht somit weniger der Konstruktion von „Gegenmythen“ zu extrem rechten Mythen widmen, sondern dazu beitragen, jene weitgehend verkannte oder ignorierte Vielstimmigkeit sicht- und hörbar zu machen. Und nicht zuletzt: Wir sollten Fragen nach den uneingelösten Hoffnungen und Versprechen stellen, die sich an den Begriff der „Demokratie“ knüpfen.
Kann das Konzept der „Vielstimmigkeit“ nicht leicht als Beliebigkeit missverstanden werden? Worin besteht die Kraft und wo die Grenze der Vielstimmigkeit?
Das Konzept der „Vielstimmigkeit“ macht darauf aufmerksam, dass „Geschichte“ und auch Erinnerungskulturen nicht an sich existieren, sondern „gemacht“ werden, mithin also Konstrukte darstellen, die sich nicht zuletzt an gegenwartsorientierten Zielen und Interessen orientieren. Wer schreibt Geschichte und mit welchen Zielen? Welche Stimmen und Erfahrungen werden gehört und welche nicht? Gibt es die eine „Demokratiegeschichte“ oder gibt es nicht eine Vielzahl von Kämpfen um Anerkennung, Partizipation und somit auch „Demokratie“, die sich eben nicht in eine große Erzählung fügen lassen. „Vielstimmigkeit“ in den Fokus zu rücken, bedeutet demnach auch, nach Machtverhältnissen und daran geknüpfte Deutungsmacht zu fragen.
Freilich lässt sich mit dem Verweis auf „Vielstimmigkeit“ nicht die Verherrlichung oder die Leugnung beispielsweise der nationalsozialistischen Verbrechen rechtfertigen. „Vielstimmigkeit“ bedeutet nicht, beliebig jede Meinung – und sei sie auch noch so absurd, verschwörungsideologisch aufgeladen oder die Opfer des NS-Terrors verhöhnend – nebeneinander zu stellen und sie auf diese Weise zu legitimieren. Derartige geschichtsrevisionistische Vorstöße orientieren sich zumeist auch nicht an Empirie oder überprüfbaren Quellen, sondern dienen ausschließlich der Polemik. „Vielstimmigkeit“ bedeutet zudem, die Offenheit für den Austausch von Perspektiven. Daran sind die hermetischen Erzählungen der extremen Rechten jedoch nicht interessiert.
Zur bürgerlichen Basis rechter und rechtsextremer Strömungen
Ich war entsetzt darüber, dass Max Otte mit seinem sog. neuen Hambacher Fest ein buntes, aber wohlsituiertes Bürgertum anzieht. Hat das mit Max Ottes spezieller Kundenklientel – er ist ja Fondsverkäufer – zu tun oder ist die soziale Basis der neuen Rechte stark bürgerlich geprägt? Wenn dies so ist, ist dies eine neuere Entwicklung oder welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten gibt es diesbezüglich in der Geschichte des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus?
Es war immer schon ein Klischee, dass nur prekarisierte Schichten oder so genannte „Modernisierungsverlierer*innen“ die soziale Basis für extrem rechte Bewegungen stellen würden oder in besonderer Weise empfänglich seien für extrem rechte Positionen und Programmatiken. Ebenso fehl gehen die Annahmen, dass Rechtsextremismus vor allem ein jugendkulturelles Phänomen sei.
Seit Jahrzehnten verweisen zahlreiche Studien und Einstellungsuntersuchungen – etwa die „Mitte“-Studien der Universität Leipzig bzw. des Instituts für interdisziplinäre Gewalt- und Konfliktforschung der Universität Bielefeld – darauf, dass autoritäre, demokratieferne, rassistische und antisemitische Haltungen in allen Teilen der Bevölkerung verbreitet sind. Also auch in Bevölkerungsgruppen, die Sie hier als „wohlsituiertes Bürgertum“ bezeichnen. Die 2013 gegründete AfD hatte ja in ihren Anfängen den Nimbus einer „Professor*innenpartei“, was keineswegs im Widerspruch dazu stand, dass von Beginn an in dieser Partei völkische und christlich-fundamentalistische Strömungen eine unverkennbare Rolle spielten. Auch die 1983 gegründeten „Republikaner“ gaben sich „bürgerlich“ und konnten ihre größten Erfolge in Baden-Württemberg erzielen, wo es der Partei in den 1990er Jahren gelang, zweimal hintereinander in den Landtag einzuziehen. Die „Republikaner“ konnten sich dabei in erheblichem Maß auf Stimmen aus dem „bürgerlichen“ Lager stützen. Und umgekehrt boten „bürgerliche“ Parteien, zumal in der Frühgeschichte der Bundesrepublik, extrem rechts eingestellten, demokratiefernen und autoritär orientierten Einzelpersonen, Strömungen und Submilieus ein politisches Dach. Die FDP beispielsweise präsentierte sich noch während der 1950er Jahre mit den ehemaligen Reichsfarben Schwarz-Weiß-Rot und vertrat unverhohlen deutschnationale Parolen. Oder denken Sie an die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum — wenngleich nur kurzfristig amtierenden – Thüringer Ministerpräsidenten durch FDP, CDU und AfD im Februar 2020.
„Bürgerlichkeit“ und „Rechtsextremismus“ stehen somit historisch wie aktuell nicht in einem Gegensatz zueinander. Gegenläufige Annahmen folgen hier eher extremismustheoretischen Deutungsmustern, die demokratiegefährdende Bestrebungen in erster Linie an den „linken“ und „rechten“ Rändern behaupten und diese von einer „demokratisch“ gedachten „Mitte“ abgrenzen, die explizit oder implizit als „bürgerlich“ konzipiert wird. Diese Sichtweise wird freilich der Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse bzw. den in den genannten Studien dokumentierten und in der Gesellschaft verbreiteten Ungleichwertigkeitsvorstellungen nicht gerecht – weder historisch noch aktuell. Gleichwohl ist festzustellen, dass sich Sagbarkeiten in den vergangenen Jahren – eine Zäsur war hier aus meiner Sicht die zum Beststeller avancierten rassistisch aufgeladenen Thesen von Thilo Sarrazin (2010), – zugunsten einer bewusst diffamierenden und ausgrenzenden Sprache verschoben haben. In diesem Sinne trifft die von Wilhelm Heitmeyer und auch Andreas Speit formulierte These von einer „Entkultivierung des Bürgertums“ zu.
Herzlichen Dank, Michael Sturm, für ihre anregenden und nachdenkenswerten Antworten auf unsere Fragen.
Die Fragen stellte für den Freundeskreis Hambacher Fest von 1832 Ulrich Riehm.