… Bilanz und Ausblick bleiben offen
Fast drei Monate sind seit dem letzten Mai-Wochenende vergangen, an dem das von der Stadt Neustadt und der Stiftung Hambacher Schloss veranstaltete „Demokratiefest“ stattfand. Die Initiativgruppe #2022HAMBACH1832 hatte sich mit einen politisch-kulturellen Programm auf dem Neustadter Marktplatz eingebracht. Seitdem gab es einige Diskussionen und Reflexionen über diese politisch motivierte Einmischung. Mittlerweile sind auch alle Rechnungen dieses bunten Programms bezahlt, so dass auch finanziell Bilanz gezogen werden kann. Neustadts „Lügen-Guru“ und „Großsprech“, Dr. Wolfgang Kochanek, meldet sich auch immer wieder zu Wort, was nicht unkommentiert bleiben kann. Zeit für einen Rückblick mit einem offenen Ausblick.
Vorgeschichte
Auf die Hintergründe für das politische Engagement der Initiativgruppe #2022HAMBACH1832 wurde auf diesem Blog schon mehrfach eingegangen. Nur so viel: Das Engagement der Initiativgruppe richtet sich gegen die Vereinnahmung des Hambacher Festes von 1832 durch politische Kräfte, die – um es nur mit einem Wort auf den Begriff zu bringen – Autokratie fordern. Autokratie ist die unumschränkte Selbstherrschaft einer Person oder eine Gruppe, das Gegenteil von dem, was die „HambacherInnen“ 1832 gegen die „autokratischen“ Herrscher der damaligen Zeit gefordert haben und das Gegenteil von einer demokratisch verfassten Staatsform.

Und wir teilen nicht die Auffassung, dass „wir“ (die Stadt, die Stiftung, die Parteien, die Zivilgesellschaft …) diese missbräuchliche Bezugnahme auf das historische Hambacher Fest einfach „ertragen“ oder „aushalten“ müssen, sondern fordern „klare Kante“ gegen die Feinde der Demokratie. Uns geht es dabei nicht um „Verhindern“ oder „Verbote“, solange keine strafrechtlich relevanten Taten zu befürchten sind, sondern um eine eindeutige politische Positionierung gegen die „Wir-leben-in-einer-Diktatur“-Szene, die am 28.5. versuchte, das Demokratiefest zu dominieren und zu sabotieren. „Gesicht zeigen – Demokratie leben“ war deshalb das richtige Motto für das politisch-kulturelle Programm am 28.5. auf dem Marktplatz.
Das Programm
Gegen 12 Uhr waren auf dem hinteren Teil des Marktplatzes in Neustadt einige Hundert in Weiß uniformierte Kochanek-Anhänger versammelt, während im vorderen Teil vor der Bühne diejenigen saßen und standen, die am Programm des Demokratiefestes interessiert waren. Bevor die offizielle Eröffnung mit prominenten RednerInnen begann, zogen die „Weißen“ Richtung Hambacher Schloss ab, wo sie einiges Unheil anrichteten.

Der Ludwigshafener Akkordeonist mit Elsässer Wurzeln, Laurent Leroi, rahmte die Eröffnungsreden u.a. mit virtuosen Variationen über das chilenische Volkslied „El pueblo unido“ in Anlehnung an Frederic Rzewskis „The People United Will Never Be Defeated!“ ein. Es sprachen Oberbürgermeister Marc Weigel, der Vorsitzende des Beirats der Stiftung Hambacher Schloss und ehemalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck, die stellvertretende Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz und Familienministerin Katharina Binz sowie der Oberbürgermeister der Partnerstadt Wernigerode Peter Gaffert.






Mit beeindruckender Bühnenpräsenz folgte die Kurpfälzer Liedermacherin und Sängerin JOANA, begleitet von dem Saitenspezialisten Adax Dörsam. Joana sang Lieder aus dem Vormärz und der Zeit der demokratischen Revolution 1848/49. Die in ihrem Programm enthaltene Würdigung der „revolutionären Frauenzimmer“ von damals, wie Amalie Struve und Emma Herwegh, ist Joana ein besonderes Anliegen.



„Die Gedanken sind frei“, das populäre Volkslied aus der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, wurde dann gemeinsam von Joana und der Neustadter Jazz-Sängerin Nicole Metzger interpretiert. Auch wenn dieses Lied vom Rechtsextremisten Markus Krall 2018 beim ersten sog. neuen Hambacher Fest von Max Otte auf dem Hambacher Schloss angestimmt wurde und auch in der Szene der Gegner der Corona-Maßnahmen gerne gesungen wird, wollten die beiden Sängerinnen dieses in der demokratischen Bewegung populäre Volkslied nicht den Feinden der Demokratie überlassen.

Mit ihrer voluminösen Stimme interpretierte Nicole Metzger, wiederum begleitet von Adax Dorsam, danach weitere Songs, u.a. von der US-amerikanischen Songschreiberin und Ikone der Bürgerrechtsbewegung in den USA, Nina Simone, der jungen britischen Sängerin Birdy oder von John Lennon („Imagine“).
Paulina Sommer, die für die Initiativgruppe #2022HAMBACH1832 die Moderation des Programms übernahm, sprach im Anschluss an Nicole Metzgers Auftritt mit dem Trier Politologen Prof. Dr. Markus Linden über die Neue Rechte und deren Versuche, demokratiegeschichtlich bekannte Orte und Ereignisse für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Dies sei, so Linden, auch beim „Reichstagssturm“ 2020 und bei der Instrumentalisierung des Hambacher Schlosses durch Max Ottes sog. neues Hambacher Fest 2018, 2019 und 2020 deutlich geworden. Zugleich würden die Neuen Rechten den Anschluss an das „Querdenker“-Milieus suchen. Oft werde die Einschränkung der Meinungsfreiheit beklagt, so Linden weiter, aber selbst intolerant gegenüber liberalen Grundwerten agitiert. Diese radikaloppositionelle Bewegung von rechts sei eine Herausforderung für die pluralistische Demokratie. Gerade weil diese Querfront nicht als Einheit daherkomme und das Völkische oft nur indirekt postuliere, bedürfte es der Aufklärung über Agitationsmuster, Narrative und spezifische Verschwörungsideologien.


Ähnlich sieht das der Antisemitismus-Beauftragte Baden-Württembergs, Michael Blume, der in einem Grußwort an die Initiativgruppe #2022HAMBACH1832 und die Veranstaltung u.a. schrieb:
„Ich bin Ihnen und euch sehr dankbar, dass Sie Leuten die Stirn zeigen, die versuchen, das Hambacher Fest, diesen wichtigen Ort, umzudeuten in eine nationalistische und auch antisemitische verschwörungsmythologische Erzählung. Dies ist leider eine Strategie, die wir in den letzten Jahren beobachten können, dass Leute wie Max Otte sich hinstellen, vom Crash reden, über Verschwörungen raunen, und versuchen bürgerliche Parteien weit nach rechts zu verschieben, oder dass Leute wie Markus Krall sogar offensiv vom Kulturmarxismus schreiben, sich da quasi eine jüdische Verschwörung zusammen raunen und versuchen, die Eliten als Teil einer globalen Verschwörung zu diffamieren. Klar ist, Kritik ist notwendig, Demokratie ist nie fertig, nie perfekt. Dinge müssen verbessert werden. Das ist unsere Aufgabe, das bleibt unsere Aufgabe, aber das wird niemals gelingen durch Hass, durch Gewalt, durch Verschwörungsmythen oder … durch Antisemitismus.“
Musikalisch ging es weiter mit einer ehr rockigen Farbe. Shin-En, die vier Kurpfälzer um den Neustadter Brian Posch („Magischer Garten“), spielten ihre engagierten Lieder ausnahmsweise unplugged, aber mit gehörigem Groove.

Putins Krieg gegen die Ukraine durfte an diesem Tag nicht ausgeklammert werden. Musikalisch brachte das Duo Dimiris mit Vladimir Ivanov (Akkordeon) und Iris Bertholdt (Gesang) sowohl ukrainische als auch jiddische Lieder auf die Bühne. Sie umrahmten ein Gespräch zur Ukraine-Solidarität mit Valentyna Sobetska. Sie ist Vorsitzende des 2014 in Ludwigshafen gegründeten Vereins Kinderhilfe Ukraine Rhein-Neckar für Novograd-Volynskij. Der Verein organisiert Erholungsurlaube für Kinder in Deutschland und unterstützt bedürftige Personen in der Ukraine durch Hilfstransporte. Die IG #2022HAMBACH1832 hatte im Vorfeld des 28.5. erklärt, dass eventuelle finanzielle Überschüsse aus Spenden an die Kinderhilfe Ukraine Rhein-Neckar gehen werden.



Volker Gallé beendete das Programm mit eher leisen Tönen, aber klarer Botschaft. Er reflektierte in seinen Texten und Liedern die Demokratiegeschichte der Pfalz, klärte über den Unterschied zwischen dem Wartburgfest von 1813 und dem Hambacher Festes von 1832 auf und zog aus der Geschichte die Lehren für heute:

türhüter
ein türhüter schraubt das schild an –
hier wird deutsch gesprochen!
man hört eine stimme aus dem off:schleicher und papen
glaubten hitler benutzen zu können,
aber es kam umgekehrt.weidel und chrupalla
glauben höcke benutzen zu können,
aber es kommt umgekehrt.diesem anfang wohnt
ein böser zauber inne.
noch haben die deutschen eine wahl …niemand muss
Volker Gallé
in den untergang hetzen.
am ende zertreten stiefel
auch die hände und herzen
der stiefellecker.
Die Finanzen
Für die Initiativgruppe, eine nur locker organisierte und kleine Gruppe von Menschen aus der Region, war die Vorbereitung von „Gesicht zeigen – Demokratie leben“ nicht nur ein gewaltiger organisatorischer Kraftakt, sondern auch ein großes finanzielles Abenteuer. Durch Zuwendungen von Stiftungen und institutionellen bzw. privaten Spendern konnten wir die Ausgaben von über 8.000 Euro, im Wesentlichen Druckkosten und Honorare, problemlos begleichen und aus dem verbliebenen Überschuss 1.617,30 Euro an die Kinderhilfe Ukraine Rhein Neckar für Novograd-Volynskij e.V. und 250 Euro an die Deutsch-Ukrainische Gesellschaft Rhein-Neckar e.V. überweisen.

Für die finanzielle Unterstützung danken wir der Landeszentrale Politische Bildung Rheinland-Pfalz, der Amadeu Antonio Stiftung, der Rosa Luxemburg Stiftung Rheinland-Pfalz, der SPD Rheinland Pfalz, dem Kreisverband Bündnis 90/Die Grünen Neustadt Weinstraße, dem DGB Region Pfalz und privaten Spendern. Allein durch PrivatspenderInnen kamen über 3.000 Euro zusammen.
Dass wir auf dem Marktplatz in Neustadt die dort von der Stadt bereitgestellte Bühne und die Bühnentechnik mitnutzen konnten, ersparte uns beträchtliche eigenen Aufwendungen. Auch dafür einen Dank an die Stadt Neustadt.
Die Vor- und Nachwehen
Allerdings waren die Verhandlungen mit der Stadt auch langwierig und durchliefen einige Hochs und Tiefs. Da lange nicht feststand, ob und wenn ja, wann und wie wir unser Programm auf dem Marktplatz präsentieren konnten, war die Mobilisierung nur sehr kurzfristig möglich. Teilweise entstand sogar der Eindruck, dass die Stadt gar nicht an einer größeren und auch politisch motivierten Teilnehmerzahl interessiert sei.
Im Rückblick gibt es durchaus Stimmen, die unser Engagement für das Marktplatzprogramm beim Demokratiefest kritisch sehen. Wir hatten der Stadt mit großem zeitlichem, organisatorischem und finanziellem Aufwand ein vorzeigbares und dem Anlass angemessenes Programm geliefert, während die Stadt selbst im Wesentlichen ein unpolitisches, unterhaltendes Musikprogramm vorgesehen hatte, wie es auch auf jedem Weinfest zu erleben ist.
Durch unser Programm auf dem Marktplatz (wie auch durch die vielen Stände von Parteien und Initiativen im Umfeld des Marktplatzes) wurden Kräfte abgezogen, die sich gegen die Provokationen der Weißen auf dem Schloss hätten stellen können. Allerdings war nicht klar, wie die „Weißen“ an diesem Tag wirklich agieren würden, obwohl es Hinweise gab, dass sie sich wahrscheinlich auf die „Stürmung“ des Schlosses konzentrieren würden. In der Initiativgruppe wurde deshalb auch im Vorfeld die Alternative erwogen, unser Programm auf den Schlossberg zu verlegen. Nach einigen Gesprächen schien diese Variante aber nicht realisierbar. Und das Schloss ist wegen seiner etwas abseitigen Lage für BesucherInnen nur mit sehr viel mehr Aufwand zu erreichen als der Marktplatz in der Innenstadt von Neustadt, der kaum fünf Minuten vom Bahnhof Neustadt entfernt ist.
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die Initiativgruppe #2022HAMBACH1832 zu den nachbereitenden Gesprächsformaten, zu denen die Stadt und die Stiftung die unterstützenden Gruppen geladen hatte, nicht eingeladen wurde. Wir hätten gerne unsere Einschätzung eingebracht und unsere offenen Fragen zum Ablauf des 28.5. gestellt (siehe den Kommentar zur Dokumentation der Stiftung Hambacher Schloss).
Kochanek vom GröHaZ über den GroAaZ zum GröLaZ

Wolfgang Kochanek stilisiert sich auf Telegram am 15.8. als „einer der führenden Köpfe der deutschen Freiheitsbewegung“ bzw. als „einer der strategischen Köpfe dieser neuen demokratischen Bewegung“. Wir verleihen ihm deshalb den Titel des GröHaZ, des „größten Hambacher aller Zeiten“. Dass er mit seinem Zug auf’s Schloss in die Geschichtsbücher eingehen wird, dass wusste er schon vor dem 28.5. Dass er mit seinen großmäuligen Ankündigungen von 30.000 bis 50.000 weißen Demonstranten völlig gescheitert ist, stört ihn natürlich nicht. Aber er ist nicht nur einer der größte Aufschneider aller Zeiten (GröAaZ), sondern reiht sich auch ein in die Liga der größten Lügner aller Zeiten (GröLaZ).
In einem Gespräch, das junge Neustadter am 30.6. mit Kochanek geführt hatten und das teilweise – mit seiner Zustimmung – aufgenommen wurde, verbreitet er Unsinn, fake news und Märchen am laufenden Band:
Nur noch sieben Lehrstühle für Materialwissenschaft …
Kochanek ist als Chemiker, der sich mit „grüner Stahlproduktion“ befasst, verständlicherweise an der Materialwissenschaft interessiert. Um den Niedergang Deutschlands zu belegen und seine Vorurteile gegen Gender-Wissenschaft und andere „Laber-Wissenschaften“ zu befeuern, greift er im Gespräch am 30.6. wieder zu einer seiner Falschmeldungen: Es gebe nur sieben Lehrstühle für Materialwissenschaft
Kochanek: „Wir haben 230 Lehrstühle für Gender-Studies, aber wir haben z.B. nur noch sieben Lehrstühle für Materialwissenschaft. Mit Gender-Studies kann man keinen ernähren.“
Wir würden gerne Kochaneks Liste der 230 „Lehrstühle“ für „Gender-Studies“ in Deutschland oder seine Quelle für diese Falschaussage sehen. Es gibt keine 230 Lehrstühle für „Gender-Studies“. Und seine Behauptung, es gebe nur sieben Lehrstühle für Materialwissenschaft in Deutschland, ist Unsinn. An allen bedeutenden technischen Universitäten von Aachen bis Stuttgart gibt es Departmens, Fakultäten oder Institute zur Materialforschung. Allein am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) umfasst das dortige Institut für angewandte Materialien (IAM) 15 Professuren. Daneben gibt es weitere, theoretisch orientierte Institute wie das Institut für Theorie der Kondensierten Materie (TKM), das Institut für Theoretische Festkörperphysik oder das Institut für Quanten-Materialien und Technologien (IQMT). Hat Kochanek keine Ahnung oder lügt er bewusst, um Deutschland als dominiert von „Laber-Wissenschaften“ und „Gender-Studies“ schlecht zu reden?
Die kleinen Mittelständler gehen alle …
Ein weiteres Lieblingsthema Kochaneks ist der angebliche Exodus der Industrie und des Mittelstandes aus Deutschland. Am 30.6. sagt er dazu den jungen Neustadter: „Die Industrie in Deutschland geht, die kleinen Mittelständler gehen alle.“ Eine knallharte Aussage „gehen alle“.
Originalton Kochanek weiter: „Gestern war in Welt-Online ein Riesenartikel, wie viele Deutsche aus der oberen intellektuellen Schicht, Ärzte, Unternehmer usw. panikartig das Land verlassen“.
Vermutlich meint er den Welt-Artikel „Viele Deutsche verlassen das Land, Zuwanderung wieder auf Vor-Corona-Niveau“. Der Artikel bezieht sich auf eine Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes über die Zu- und Wegzüge nach bzw. aus Deutschland 2021 (Pressemitteilung 268 vom 28.6.2022 des Statistischen Bundesamtes). Aus dieser Statistik kann man überhaupt nichts entnehmen über die „intellektuelle Schicht“ oder die Berufe der aus Deutschland Auswandernden. Schon gar nicht, ob diese Auswanderung „panikartig“ erfolgt. Das weiß nur Herr Kochanek persönlich, weil er anscheinend alle im Jahr 2021 Ausgewanderten mit deutscher Staatsangehörigkeit, das waren 247 829, kennt und über ihre Berufe und Motive Bescheid weiß.
Da 2021 183 650 Deutsche auch wieder nach Deutschland zurückgezogen sind, sind in der Bilanz 64 179 deutsche Staatbürger mehr aus- als eingewandert. Das sind weniger als 0,1 % der Bevölkerung in Deutschland.
Über die Absichten oder Motive zur Auswanderung gibt es Erhebungen, etwa des Sozio-ökonomischen Panels (SOEB, hier nach Geis-Thöne 2022). Danach hatten unter den 2019 befragten Erwachsenen zwar 12,7 % eine Abwanderungsabsicht, allerdings nur 3,9 % „für immer“ die anderen für „einige Jahre“ oder „einige Monate“. Da die Abwanderungsabsichten in der Altersgruppe bis 29 Jahre besonders hoch sind, kann man daraus schließen, dass diese Absichten wahrscheinlich oft mit Ausbildungsphasen im Ausland zu tun haben. Ob die in der Befragung formulierten Absichten aber jemals umgesetzt werden, wird in diesen Erhebungen nicht erfasst. Ein Indikator dafür, dass die Umsetzungsrate der Absichten relativ gering ist, zeigt die Antwort auf die Frage, ob der Umzug in den nächsten 12 Monaten beabsichtigt sei. Nur 0,9 % der Befragten beabsichtigen binnen eines Jahres ins Ausland umzuziehen, 12,7 % haben keine konkreten Pläne binnen eines Jahres.
Noch lückenhafter ist die Datenlage bei der Betrachtung von Unternehmensverlagerungen ins Ausland. Wie die Zu- und Auswanderung von Teilen der Bevölkerung ja kein neues Thema ist, ist dies auch für die Unternehmen nicht neu. Der wirtschaftliche Strukturwandel ist integraler Bestandteil der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik seit Jahrhunderten. Jeder kennt Branchen, die in Deutschland (fast) völlig verschwunden sind, früher aber eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung hatten. Für die Pfalz fällt einem sofort die Schuhindustrie ein, für das Saarland die Kohle- und Stahlindustrie.
Kochanek „weiß“ natürlich nicht nur, dass „die Industrie geht [ins Ausland], die Mittelständler alle“, sondern auch warum: Wegen der überbordenden Bürokratie in Deutschland und den unfähigen Politikmarionetten im Rathaus in Neustadt, in der Landesregierung in Mainz und in der Bundesregierung in Berlin.
Lassen wir auch bei diesem Thema diejenigen sprechen, die sich professionell und wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt haben, etwa das Fraunhofer ISI in Karlsruhe (Daten einer zweijährlichen Erhebung bei Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland seit 2006, aktuellste Zahlen für 2018, Kinkel/Maloca 2009, Leck/Jaeger 2021).
Während 2006 noch 15 Prozent der befragten Betriebe des verarbeitenden Gewerbes von vollzogenen Produktionsverlagerungen ins Ausland in den Jahren 2004 bis 2006 berichteten, waren dies für den Zeitraum 2016-2018 nur noch sechs Prozent (Lech/Jaeger 2021, S. 8 f.)
Drei Prozent der befragten Unternehmen berichten von Rückverlagerungen von Unternehmensteilen aus dem Ausland nach Deutschland (hierzu nur Daten aus dem Jahr 2009 nach Kinkel/Maloca 2009, S. 3).
Dominantes Motiv für die Verlagerung ins Ausland waren die Personalkosten für 77 % der Unternehmen, die Produktionskapazitäten ins Ausland verlagert hatten. Das Thema Steuer, Abgabe, Subventionen taucht dagegen erst an sechster Stelle bei 12 % auf. Wichtiger sind etwa die Nähe zu den Kunden oder die Markterschließung (29 % und 28 %).
Als Gründe für die Rückverlagerung von Produktionsstätten nach Deutschland stehen an erster Stelle Qualitätsprobleme in der Produktion im Ausland. 68 % der Betriebe, die in den letzten zwei Jahren eine entsprechende Rückverlagerungen vorgenommen hatten, gaben dies als Grund an. An zweiter Stelle steht mit 43 % kritische Einbußen der Flexibilität und Lieferfähigkeit durch die Auslandsproduktion. Man sieht, so toll sind die Produktionsbedingungen im Ausland wohl auch nicht immer und überall (Kinkel/Maloca 2009, S. 7 f.).
Halten wir auch bei diesem Thema fest: Kochanek verbreitet, um es höflich auszudrücken, mit einem seiner Lieblingsthemen „Exodus der Industrie und des Mittelstandes ins Ausland wegen überbordender Bürokratie“ schlechte Stimmung. Er reiht sich damit ein in die Krisenpropheten von Markus Krall bis Max Otte, die wir auch von Auftritten am Hambacher Schloss und in Neustadt kennen. Ob Kochanek es nicht besser weiß oder ob er bewusst die Fakten verdreht, wissen wir nicht. Wir können nur davon warnen, Kochaneks Aussagen für bare Münze zu nehmen.
Corona
Gerne lässt sich Kochanek auch über Corona und die Maßnahmen der Regierung gegen die Ausbreitung dieser Pandemie aus. Bei diesem Thema findet er breite Unterstützung und ein dankbares Publikum unter den „SpaziergängerInnen“, „ImpfgegnerInnen“ und „Maßnahme-KritikerInnen“. Ein Großteil der „weißen“ Schloss-StürmerInnen ist vermutlich zu dieser Szene zu rechnen.
Und Kochanek ist sich nicht zu schade, den überraschenden Tod von Markus Gärtner mit der Impfung in Verbindung zu bringen.
Originalton Kochanek auf die Frage, ob er im Bekanntenkreis „Coronatode“ erlebt habe, Leute kenne, die wegen Corona gestorben seien: „Nein, ich habe keine erlebt, aber … der Herr Gärtner, der war plötzlich tot, zweimal geimpft, zweimal geboostert, der war plötzlich tot.“
Markus Gärtner hat Max Ottes Youtube-Kanal und seine Publikationen betreut und Kochanek mehrfach interviewt. Er starb am 26.6.2022.
In dem Gespräch mit den Jugendlichen aus Neustadt am 30.6. hebt er besonders auf eine angeblich ganz andere „Corona-Politik“ in der Schweiz und Schweden ab.
Originalton Kochanek: „Und wie groß war die Übersterblichkeit in Deutschland gegenüber der Schweiz und Schweden, die gar nichts gemacht haben? Milliarden in dämliche Impfungen. … Bitte vergleichen Sie einfach mal die Zahlen. Da gibt es … Schweden, die haben nix gemacht, die Schweiz hat nix gemacht und paar andere Staaten haben auch nix gemacht und am Ende ist genau dasselbe herausgekommen.“
Was sind die Fakten?
Die folgende Grafik zeigt die Übersterblichkeit, also die Anzahl der Todesfälle über einen statistisch erwarteten („Normal-“)Wert (Our World in Data 19.8.2022, dort detaillierte Quellenangaben).

Die Schweiz zeigt im Frühjahr 2020 eine deutlich erhöhte Übersterblichkeit, einen extremen Anstieg im Winter 2020/21 sowie – auf niedrigerem Niveau – erneut einen Anstieg der Übersterblichkeit im Winter 2021/22. In Schweden ist die Übersterblichkeit im Frühjahr 2020 ähnlich hoch wie in der Schweiz. Die auch in Deutschland teilweise feststellbare Übersterblichkeit erreicht zu keiner Zeit die extremen Werte der Schweiz 2020 und 2021.
In Ergänzung kann auch eine offizielle Quelle aus der Schweiz herangezogen werden. Das Bundesamt für Statistik der Schweiz schreibt in einer Broschüre „Öffentliche Statistiken zu Todesfällen, Übersterblichkeit, Todesursachen und meldepflichtigen Erkrankungen“ 2022, S. 5: „Die Übersterblichkeit im Frühling 2020 sowie im Herbst/Winter 2020/2021 als auch im Winter 2021/2022 ist zweifelsfrei auf die Covid-19-Pandemie zurückzuführen.“
Aber was kann man zu der Behauptung Kochaneks sagen, „die Schweiz hat nix gemacht“, also keine Schutzmaßnahmen erlassen?
Am 28.2.2020 wurde in der Schweiz auf Basis eines Gesetzes eine erste Verordnung erlassen (818.101.24), nach der öffentliche oder private Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Personen nicht zugelassen sind. Im Folgenden auszugsweise eine Übersicht über weitere Schutzmaßnahmen (Quelle: Lockerungen und Verschärfungen der nationalen Massnahmen)
6.7.2020 Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr, Quarantäne für Einreisende aus Staaten und Gebieten mit erhöhtem Ansteckungsrisiko;
15.8.2020 Maskenpflicht in Flugzeugen;
19.10.2020 Verbot von spontanen Menschenansammlungen mit mehr als 15 Personen, Maskenpflicht in öffentlich zugänglichen Innenräumen;
29.10.2020 Maskenpflicht in Außenbereichen von öffentlich zugänglichen Einrichtungen, wenn im öffentlichen Raum der Abstand nicht eingehalten werden kann, in Schulen ab der Sekundarstufe II und am Arbeitsplatz, Schließung von Diskotheken und Tanzlokalen, Verbot von Tanzveranstaltungen, in Restaurants und Bars Gästegruppen von max. 4 Personen, Sperrstunde von 23.00 bis 06.00 Uhr, Verbot von öffentlichen Veranstaltungen mit mehr als 50 Teilnehmenden, Verbot von privaten Veranstaltungen mit mehr als 10 Teilnehmenden, Verbot von Freizeitaktivitäten mit mehr als 15 Teilnehmenden;
2.11.2020 Verbot von Präsenzveranstaltungen an Hochschulen
etc.
Dass diese Maßnahmen heute alle wieder aufgehoben sind und auch zwischendurch Lockerungen und erneute Verschärfungen vorgenommen wurden, muss nicht weiter ausgeführt werden. Aber Kochaneks „gar nichts gemacht haben“ ist schlicht und einfach Bullshit.
Dass Schweden mehr auf Freiwilligkeit bei den Schutzmaßnahmen gegen eine Ausbreitung von Corona gesetzt hat, ist bekannt. Dass es überhaupt keine staatlichen Anordnungen (Gebote, Verbote) gegeben hat, ist ein Ammenmärchen. Es gab in Schweden auch Besuchsverbote für Pflege und Altenheime oder eine Umstellung auf Fernunterricht für die Schulklassen ab Klassenstufe 10 sowie für die Universtäten. Die Anzahl der Abgeordneten im Reichstag wurde zeitweise von 349 auf 55 reduziert! (Wikipedia „COVID-19-Pandemie in Schweden“)
Auf weitere Details sei hier verzichtet, da wegen der Sprache der Zugang zu den einschlägigen, detaillierten Informationen für Schweden nicht so einfach ist wie für die Schweiz. Aber auch hier gilt: Dass die Schweden „nix gemacht“ hätten gegen die Pandemie, ist ein von Kochanek verbreiteter Unsinn.
Auf einer prinzipiellen Ebene ist es aus verschiedenen Gründen problematisch, eine Beurteilung des Pandemieverlaufs und der Wirkung der jeweils ergriffenen Maßnahmen anhand der Todeszahlen bzw. der Übersterblichkeit vorzunehmen. Denn was lässt sich aus einer eingetretenen Übersterblichkeit ableiten? Dass die Pandemie besonders schlimm wegen der außergewöhnlich vielen Tote sei oder dass keine oder zu wenig Schutzmaßnahmen ergriffen wurden oder die implementierten Schutzmaßnahmen nicht die gewünschte Wirkung gezeigt haben? Alle drei postulierten Zusammenhänge sind prinzipiell und empirisch möglich. Die Argumentation mit Todeszahlen wird schnell zynisch, wenn Corona-Gegner auf niedrige Todeszahlen hinweisen („Corona ist ja nur wie eine normale Grippe“), aber gleichzeitig die Schutzmaßnahmen verurteilen, die eingeführt wurden, um die Todeszahlen möglichst niedrig zu halten.
Ausblick – offen
Kochanek hat für Mai 2023 erneut einen „historischen“ Zug der „Weißen“ auf das Hambacher Schloss angekündigt. Die Freien Pfälzer wollen fast monatlich zum Schloss demonstrieren oder „wandern“, so am 1.10., am 3.10. oder am 11.11. Man sollte sich von diesen großmäuligen Ankündigungen nicht zu sehr ins Bockshorn jagen lassen. Kochanek hat auch kundgetan, dass er mit seinen „Weißen“ bei der Stadtratswahl 2024 in Neustadt kandidieren will. Es ist sehr die Frage, ob Kochanek mit der Farbe Weiß politisch zwischen den Unternehmerfreunden der FDP, der vom Verfassungsschutz beobachteten AfD, der aus den Corona-Protesten hervorgegangenen Partei Die Basis und den Freien Pfälzern noch ein Plätzchen für sich findet.
Wie sich im Herbst/Winter die rechtsgewickelte Protestbewegung angesichts von Preissteigerungen, Gaslieferengpässen und andauerndem Krieg Russlands gegen die Ukraine weiter entwickelt, ist nur schwer vorauszusehen. Im Mai 2022 ist allerdings deutlich geworden, dass die demokratische Bewegung in der Region nicht gut aufgestellt ist, um gegen die Vereinnahmung des Hambacher Schlosses durch Kochaneks Weiße, „Freie“ Pfälzer, Max Otte im Hintergrund und andere „Quertreiber“ anzugehen. Dagegen hilft nur kontinuierliche Aufklärung, war wir mit dem Hambach-Blog seit 2018 unterstützen. Dass wir einige offen Fragen an Polizei, Ordnungsbehörde und Innenministerium haben, was deren Vorgehen am 28.5. angeht, darauf haben wir schon hingewiesen.
Ulrich Riehm, Freundeskreis Hambacher Fest von 1832

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